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Interview
Siamese: „Aus schwierigen Zeiten lässt sich viel lernen“
Sänger Mirza Radonjica über das neue Album „Elements" und den Weg zum Erfolg.
VON
Laura-Marie Reiners
AM 01/08/2024
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Siamese haben einen langen Weg hinter sich. Als sich die Herrschaften aus Dänemark im Jahr 2011 zusammengeschlossen haben, konnte noch niemand ahnen, dass sie bald mit Szenegrößen wie Corey Taylor oder Korn auf Tour gehen würden und Menschen auf der ganzen Welt mit ihren Songs aus der Seele sprechen.
Denn: Fünf Jahre nach der Gründung hatte sich die Band mangels Erfolg fast aufgelöst. Doch für Frontmann Mirza Radonjica gab es nie eine andere Option als die Musik. Eine Jugend geprägt von Gewalt, Chancenungleichheit und vielen Rückschlägen hat Spuren hinterlassen – aber auch eine enorme Willensstärke hervorgebracht.
Angekommen im Jahr 2024, veröffentlichen Siamese ihr siebtes Studioalbum „Elements“, mit dem sie ihre Identität als Band noch weiter festigen wollen. Wir haben mit Mirza über den neuen Longplayer gesprochen, die Herausforderungen auf dem Weg dorthin und warum er letztendlich doch froh ist, dass der Erfolg nicht schon früher kam.
Siamese im MoreCore-Interview
Laura | MC: Mirza, im Vergleich zu eurem Album „Home“ (2021) fühlt sich „Elements“ noch experimenteller an. Ihr habt Elektro- und Hip-Hop-Elemente, einen Coversong, Pop-Punk… War es von Anfang an euer Plan, so eine Genrevielfalt auf der Platte zu haben?
Ich glaube, „Elements“ ist der Feinschliff von Home. Mit „Home“ haben wir unsere eigenen Maßstäbe gesetzt und einen Stil gefunden, der unserer Meinung nach wirklich repräsentativ für uns als Band ist. Für „Elements“ haben wir uns von dem inspirieren lassen, was die Szene im Moment bewegt.
Wir haben uns viele Bands angehört, die in der „Djent Shitposting“ Gruppe auf Facebook geliked werden. Wir haben die Fähigkeiten von [unserem Gitarristen] Andreas [Krüger] als EDM- und Hip-Hop-Produzent genutzt. Wir haben mit verschiedenen Gitarrentönen und Kompositionen herumgespielt, aber vor allem wurden die Songs von unserer früheren Arbeit inspiriert.
Also begrüßt ihr die Entwicklung, dass Genregrenzen immer mehr verschwimmen?
Absolut. Die Szene im Allgemeinen ist so aufstrebend wie seit den späten 90er-Jahren nicht mehr, mit neuen Superbands, die die Grenzen sprengen und Dinge tun, von denen wir nie gedacht hätten, dass sie zu unseren Lebzeiten passieren würden.
Ihr habt auf eurem neuen Album ein Cover von Ariana Grandes Hit „God Is A Woman“. Wie ist es dazu gekommen?
Ich bin ein großer Fan von Ariana und „God Is A Woman“ ist einer meiner absoluten Lieblingssongs. Ich finde, es ist an der Zeit, mal die Frauen zu loben. Dafür, dass sie unsere Szene im Sturm erobern und gleichzeitig einige der größten und kreativsten Wellen schlagen. Ich meine euch, Charlie Rolfe (As Everything Unfolds), Maria Lessing (Future Palace) und Poppy (und viele mehr)!
Euer Weg bis hierher war alles andere als einfach. Nach einigen wenig erfolgreichen Jahren standet ihr 2016 kurz vor der Auflösung. Woher kam die Motivation, trotzdem weiterzumachen?
Wenn ich damals das Songwriting und die Band aus meinem Leben gestrichen hätte, hätte ich einen neuen Weg finden müssen. Dazu war ich nicht bereit. Ich hatte nicht das Gefühl, irgendein besonders Talent zu haben. Ich wäre gerne Fußballer geworden, aber ich hatte einen fetten Arsch und sehr wenig Talent für Fußball – also wählte ich die realistischere Option, Musik zu machen.
Damals habt ihr euch ja dazu entschieden, Siamese als Hobby weiterzuführen. Dann kam euer Album „Shameless“ (2017) auf den Markt, mit dem ihr in kürzester Zeit Millionen von Streams erreicht habt. Klingt fast wie Schicksal.
Ich glaube eher an den starken Willen. Ich habe um die 500 bis 600 Songs geschrieben, habe die schlechtesten Tourangebote angekommen und habe über einen Zeitraum von acht Jahren mehr als 300.000 Euro investiert, um etwas aus Siamese zu machen. Ich bin um die Welt gereist und war absolut entschlossen, etwas zu erreichen. Ist das Schicksal? Vielleicht eher Wahnsinn.
Und das alles, obwohl du schon in deiner Kindheit und Jugend mit vielen Hindernissen konfrontiert wurdest, Mirza. Du bist mit deiner Familie vor dem Genozid auf dem Balkan geflohen und ihr habt vier Jahre in einem Lager für Geflüchtete verbracht…
Ja, ich war die meiste Zeit meines Lebens der Underdog. Alkoholmissbrauch, körperliche Misshandlung, religiöse Neigungen, Rassismus und fehlende Chancengleichheit gehörten zur Normalität, zumindest bis in meine 20er. Aber dass ich nicht die gleichen Chancen wie die anderen hatte, bedeutete nicht, dass ich gar keine Chancen hatte.
Ich habe die sich bietenden Chancen genutzt und mich durchgesetzt. Um ehrlich zu sein, hatte ich zu Anfang nur eine ganz normale Gesangsstimme und nicht das geringste Talent zum Songwriting. Aber ich wollte dieses Leben, also habe ich hart gearbeitet und alles aus meiner Vergangenheit mitgenommen. Aus schwierigen Zeiten lässt sich viel lernen.
Haben deine Erlebnisse auch einen Einfluss auf die Musik von Siamese?
Je älter ich werde, desto weniger fällt das auf. Unsere Singles handeln in gewisser Weise nicht mehr von meinen persönlichen Kämpfen. Sie sind etwas allgemeiner gehalten. Wir haben die große Ehre, mit unseren Fans im Kontakt zu sein und eine treue Community aufgebaut zu haben. Das hat die Songs auf „Elements“ beeinflusst. Das Album ist für unsere Fans.
2024 ist viel los bei euch. Ihr wart mit Corey Taylor auf Tour, habt auf Festivals gespielt und werdet ab September Rain City Drive in den USA unterstützen. Und natürlich kommt euer neues Album auf den Markt – mit Songs, die schon von großen Radiosendern gespielt wurden. Wie fühlt es sich an, endlich diese großen Meilensteine erreicht zu haben?
Es fühlt sich… gar nicht mal so aufregend an, wenn ich komplett ehrlich sein soll. Aber im positiven Sinne. Ich bin nicht niedergeschlagen, ich bin nicht überglücklich, ich gebe nicht vor, dass sich irgendetwas in meinem Leben geändert hat. Vor allem habe ich nicht das Gefühl, dass die Jungs aus der Band irgendetwas verändert haben.
Ich bin einfach froh, dass wir unseren Peak nicht schon in jungen Jahren erreicht haben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals in der Lage gewesen wäre, mit dem ganzen Druck und der Aufregung umzugehen. Ich bin glücklich, dass ich das, was wir tun, endlich in einer Größenordnung tun kann, in der ich mich nicht mehr selbst mit meinen Ängsten ertränke, wie ich es noch vor drei Jahren getan habe.
Ich versuche, mich nicht mit anderen Künstler:innen zu vergleichen und nicht zu weit vorauszudenken. Und ich habe erkannt, dass ich nicht glücklich bin, weil ich auf den großen Bühne stehe. Mein Glück ist es, Zeit mit den Jungs zu verbringen, mit Fans zu reden, die uns verstehen, und auch die Momente abseits der Bühne zu genießen.
Am 10. August feiert ihr den Release von „Elements“ auf unserer MoreCore Party in Hamburg und werdet ein Live-Set spielen. Was können die Leute erwarten?
Eine wilde Party. Und ich will einen Test machen. Wer dieses Interview bis hierher gelesen hat, kann mit dem Codewort „Heiße Scheiße“ zu mir kommen und ich gebe euch ein Bier aus. Kleines Versprechen.
Auf welchen Song freut ihr euch am meisten, ihn live zu spielen?
„This Is Not A Song“… Wir haben schon geschummelt und ihn live vor einem sehr großen Publikum performt. Ihr werdet noch früh genug erfahren, warum!
Last but not least: Was erhoffst du dir für die Zukunft von Siamese?
Ich hoffe, dass Siamese noch viele Jahre lang ein Teil des Lebens der Menschen sein können, in welcher Form auch immer. Ich hoffe, dass wir weiterhin Menschen in irgendeiner Form berühren können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Foto im Auftrag von MoreCore.de: Hanna Wollny (sonderbar.fotografie)
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