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Raised Fist: „’Was zum Teufel ist das für ein Müll? Disturbed?‘ Nein, das ist echter Hardcore.“
Vor einigen Wochen trafen wir am frühen Abend Raised Fist-Sänger Alexander “Alle” Hagman und Bassist Andreas “Josse” Johansson in den ...
VON
Sebastian Scheele
AM 07/11/2019
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Vor einigen Wochen trafen wir am frühen Abend Raised Fist-Sänger Alexander “Alle” Hagman und Bassist Andreas “Josse” Johansson in den Räumlichkeiten – genauer gesagt der Küche – der Düsseldorfer Starkult PR-Agentur. Die Beiden hatten nur wenige Stunden Schlaf und bereits einen langen Interview-Marathon hinter sich. Nichtsdestotrotz gab sich besonders Alle, der später noch Jiu Jitsu unterrichten sollte, sehr redselig und stand uns Rede und Antwort zur aktuellen Platte “Anthems” sowie dem neuen Sound der Band. Außerdem gaben die Zwei einen Einblick in die Chancen von Anniversary-Touren für die Alben “Ignoring The Guidelines” oder “Sound Of The Republic”.
MC | Sebastian S.: Herzlichen Glückwunsch zur neuen Platte. Seit der Veröffentlichung von “From The North” sind nun vier Jahre vergangen. Im Dezember 2018 habt ihr angekündigt, dass etwas Neues via Epitaph, eurem Label, erscheinen soll. Wann habt ihr mit dem Recording begonnen?
Alle: Wir haben mit den Aufnahmen im April begonnen. Die Pre-Production startete aber weit vorher. Es gab einige Verzögerungen. Das Album sollte eigentlich vor dem Sommer nächsten Jahres erscheinen, irgendwann um April rum.
MC | Sebastian S.: Das neue Album heißt „Anthems“. Hat jeder Song eine eigene Geschichte, etwas Heldenhaftes oder etwas Tiefgründiges? Was ist die Absicht von „Anthems“ als komplette Platte und “Anthem” im Singular als erste Single?
Alle: Jedes Lied hat eine Geschichte und einen Hintergrund, sogar einen ziemlich starken Hintergrund. Sogar Songs wie “Anthems” selbst, auch wenn die Geschichte hier nicht so tiefschürfend ist. Als wir “Anthems” schrieben, nannten wir diesen Song „Hardcore“ als Arbeitstitel. Weil es sich wie echter Oldschool-Hardcore anfühlte, genau wie etwas, was Judge, Strife und Earth Crisis geschrieben haben könnten. Die Jugendlichen verstehen das nicht. „Was zum Teufel ist das für ein Müll? Disturbed?“ Nein, das ist echter Hardcore. Eigentlich ist das nicht mal Oldschool-Hardcore, weil wir dazu eigentlich zu schnell sind. Das ist das nächste Refused, Snapcase, Earth Crisis oder Judge… dies ist eine Mischung aus diesem Sound. Ich habe mir den Song jeden Tag wiederholt angehört und wir waren immer wieder überrascht und irritiert, dass der Song so catchy ist. Er ist einfach so eingängig und ich sagte “Ich glaube, das ist ein wirklich kraftvoller Song, wie eine Hymne, wie ein “Anthem””. Das Riff ist so verdammt hart, wie bei Biohazard, Judge oder auch Gorilla Biscuits.
Im Studio habe ich viele Texte improvisiert und bin einmal fast zusammengebrochen, weil es eine Hitzewelle gab und ich 14 Stunden ohne Wasser gearbeitet habe. Mir ging es nicht gut. Ich war kurz davor, buchstäblich in Flammen aufzugehen. Die Zeilen “We are coming with the sound of the kick drum leading the way…” sind eine Referenz an Hip-Hop-Lyrics. Früher konnte man solche Texte schreiben und singen. Ich singe sogar in einem anderen Lied “From the first line to the last line” und referenziere hiermit auf “Street by street. Block by block. Taking it all back.” aus dem Earth Crisis-Song “Firestorm”. Das ist Old School und nicht typisch Raised Fist.
Als ich den Jungs die Songs mit den fertigen Lyrics gezeigt habe, sagten sie nur “Scheiße, ist das gut!”. Eigentlich darf man das niemandem erzählen, weil man uns für narzisstische Psychopathen halten könnte, dass wir unsere eigene Musik so hypen (lacht).
Es gab einfach kein einziges durchschnittliches Lied. Hier fickt einfach alles. Jedes Lied hat seine Hook, wie ich es wollte. Wir haben wirklich alles aus uns herausgeholt, was wir konnten. Wir hatten eine Idee für den Titel der Platte und ich schlug vor “Was ist schlichtweg mit ‘Anthems’?”. Wir haben kurz geschwiegen und überlegt und einstimmig gesagt “Ja, es sind alles Anthems.”. Es ist cool und ich hatte sofort die Idee der grafischen Gestaltung dazu.
MC | Sebastian S.: Kürzlich habt ihr einen positiven Beitrag über Greta Thunberg verfasst und dafür sehr viele negative Kommentare erhalten. Braucht diese Welt vielleicht neue Hymnen, um ihre Kraft und Motivation zu bewahren? Gibt es auf dem Album irgendetwas, das sich auf die derzeitige soziale Entwicklung bezieht?
Alle: Nicht so direkt. Ich habe diese Themen schon immer angesprochen. Die Themen werden aber nicht wirklich absichtlich angesprochen. Es ist, was ich gesagt habe. All diese Songs sind Hymnen. Das bedeutet, dass die Menschen eine dieser Hymnen haben können und diese zu einer ihrer Hymnen werden kann. Bei “Unsinkable 2” geht es zum Beispiel um häuslichen Missbrauch. Auch das ist eine Hymne für Betroffene.
MC | Sebastian S.: Könnt ihr den Bezug zwischen “Unsinkable” 1 und 2 erklären? Die erste Version ist viel härter, schneller und aggressiver. Teil 2 ist langsamer, melodischer und weniger aggressiv, sogar melancholisch.
Alle: Eigentlich sind sie nicht anders. Das Gitarrenriff ist genau dasselbe. Ich hatte tatsächlich diesen Refrain zu einem anderen Lied und spielte ihn öfter während der “From The North”-Phase.
Sie passen gut zueinander. Ich schrieb die Strophe zu “Unsinkable” und Josse schrieb den Refrain. Dieser Refrain gehört einfach dazu, man kann sie nicht auseinander reißen. Es ist wie bei Metallica mit “The Unforgiven” 1 und 2. Wir haben einfach das gleiche Prinzip verwendet. “Unsinkable 2” ist etwas langsamer. Aber der Refrain ist nur ein anderes Arrangement.
MC | Sebastian S.: Dies‘ bringt mich zu dem Punkt, dass die neue Platte die melodischste zu sein scheint, die die Band jemals aufgenommen hat. In den Presseinformationen heißt es, dass der Gesang und das Schlagzeug zum ersten Mal in der Geschichte der Band den Raum und die Zeit erhalten hatten, die sie brauchten. Könnt ihr erklären, wie sich dies’ auf der Platte ausdrückt und wie Du Deine Stimme darauf trainiert hast, auch diese sauberen Harmonien zu bringen?
Alle: Wir haben keine echte Absicht, wenn wir anfangen, Songs zu schreiben. Wir überprüfen das Inventar, schauen, was wir haben. Wir hatten viele Songs, die ein etwas langsameres Tempo aufweisen. Also mussten wir uns Gedanken machen, wie wir die richtige Dynamik erreichen konnten. Einige Lieder mussten gestrichen werden. Normalerweise ist es Jimmy (Anm. d. Red.: Jimmy Tikkanen, Gitarrist), der sehr melodische Riffs schreibt wie bei “Ready To Defy” oder “Man and Earth”. Ich denke, “From The North” ist auch sehr melodisch, aber härter mit einem raueren Sound. Das neue Album ist etwas aufgeräumter. Wir haben eine ganz besondere Mischung von Gitarrensounds verwendet, um die Melodie ein wenig voranzutreiben. Wir wollten das Rauere mehr im Hintergrund haben. Wir wollten, dass dieser Mix der perfekte Spiegel unseres Sounds ist.
Wir sind eine Rockband mit Metal-Einflüssen, die auf einem sehr starken Fundament aus Punk und Hardcore basiert. Wir verstehen uns als Hardrock und Metal-Band. Hardcore-Leute sprechen von uns als Hardcore, weil sie den Hardcore hören können. Aber 52-jährige Frauen, die einfach noch keinen Hardcore gehört haben, empfinden unseren Sound komplett anders. ”Unsinkable 2” ist ein Hardrock-Song. Man kann sogar Wasp- und Bonnie Tyler-Einflüsse hören.
Es gab keinen Grund für den melodischen Sound. Normalerweise schreibe ich die melodischen Parts, aber auf diesem Album waren meine Parts ziemlich hart.
MC | Sebastian S.: Wer ist denn bei euch hauptsächlich für’s Songwriting verantwortlich?
Alle: Jeder schreibt die Songs und wir sind sehr ehrlich miteinander. Jimmy schrieb zwei oder drei und normalerweise ist er unser Hauptkomponist.
Josse: Es ist wichtig, keinen Wettbewerb untereinander zu haben. Wir wollten das Beste von jedem haben.
Alle: Es ist wie beim Thema Kinder. Du streitest Dich nie mit Deiner Freundin über die Kinder, weil man das Beste für seine Kinder will. Genau wie in der Sage von König Salomo, in der sich zwei Frauen um ein Kind streiten.
MC | Sebastian S.: Ihr supported Boysetsfire in Kürze auf ihrer Tour durch einige europäische Länder und Großbritannien und spielt in riesigen Hallen. Dabei sind Raised Fist nicht einmal auf demselben Label wie Boysetsfire. Wie ergab es sich, dass ihr Teil ihrer 25-jährigen Jubiläumstour geworden seid?
Alle: Boysetsfire haben uns gefragt. Sie sahen sich unsere Show in der Markthalle in Hamburg an, die wir ausverkauft hatten. Sie haben großen Respekt vor uns. „Scheiße, das ist verrückt“, dachten sie, als sie die Show sahen. Sie sind hier nur lediglich größer als wir. Wenn wir in Skandinavien spielen, verkaufen wir Hallen mit einer Kapazität von 1.500 Personen aus und spielen Festivals mit 20.000 Besuchern. Sie haben hier eine andere Wahrnehmung unter den Fans als wir. Wir haben auch 25 Jahre Bandgeschichte vorzuweisen, genau wie sie. Sie empfanden uns als einen guten Kontrast zu sich und entschieden deshalb auch für uns. Wir sagten zwar, dass es nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung der neuen Platte sei und wir auf Headliner-Tour gehen würden, aber sie wollten uns als Special Guest und natürlich sagten wir ja. Wir sehen es als eine Art Kickstart.
Wir mögen die Band auch sehr. Wenn Du 2.000 Boysetsfire-Fans hast, hören davon vielleicht 600 auch Raised Fist. Der Rest hat zumindest schonmal von uns gehört und wir können sie weiter für uns gewinnen.
MC | Sebastian S.: Ich denke, was viele Fans gerne wissen würden, ist, ob sie mit Jubiläumstouren rechnen können. Der Trend zu Anniversary-Shows hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Viele Bands des modernen Rock und Metal oder Hardcore haben großartige Alben geschrieben, die jetzt 10, 15 oder 20 Jahre alt sind. “Ignoring The Guidelines” würde kommendes Jahr 20 Jahre alt, “Sound Of The Republic” wird 2021 15 Jahre alt.
Alle: Nein, das sind wir einfach nicht. Wenn Du in ein Restaurant gehst, das sich ständig ändert und Du das Gefühl hast, „Oh, mein Lieblingsgericht ist weg“, ist es dem Restaurant einfach egal. Ich habe das schon oft gesehen, z. B. mit Rancid und es ist verdammt großartig. Es ist eine Party, aber es ist nicht Raised Fist. Die ständige Weiterentwicklung hin zu neuen Sachen… wir sind mehr Musiker als Künstler. Wir machen mehr Musik, als wir live spielen. Wir haben die ganze Platte alleine kreiert. Ich habe das Layout entworfen, Daniel hat alle Bandfotos gemacht und ich habe das “Anthems”-Video erstellt. Alles ist kreativ an dieser Band. Wir werden keine Zeit damit verschwenden, Spaß daran zu haben, alte Songs zu spielen.
[Und dann fällt mir Alle noch schnell ins Wort:]
Ich sage nicht, dass wir dies in einem bestimmten Szenario möglicherweise nicht tun, aber wir touren nicht damit.
MC | Sebastian S.:Es ist ja auch ziemlich angesagt, so etwas zu tun.
Josse: Wir machen normalerweise keine angesagten Sachen (lacht). Wir haben das Album “Ignoring The Guidelines” genannt damals, also… (lacht). Aber es ist nicht Raised Fist. Vielleicht spielen wir mal eine einzige Show hier oder da nach diesem Prinzip.
Alle: Wir spielen die Songs auch einfach zu selten.
An dieser Stelle möchten wir uns nochmal herzlich dafür bedanken, dass sich die Beiden die Zeit für dieses Interview genommen haben, trotz der Strapazen, die sie auf dieser Promoreise zu meistern hatten.
“Anthems” erscheint am 15. November via Epitaph und die Band wird wie erwähnt Boysetsfire auf einigen ihrer Anniversary Shows begleiten.
Hier findet ihr alle Daten:
28.11.2019 DE – Würzburg, Posthalle *
29.11.2019 DE – Köln, Palladium ** (Family First Festival) (SOLD OUT!)
30.11.2019 UK – London, The Underworld *** (SOLD OUT!)
01.12.2019 NL – Amsterdam, Melkweg ***
02.12.2019 DE – Hamburg, Grosse Freiheit *** (SOLD OUT!)
03.12.2019 DE – Leipzig, Werk 2 *** (SOLD OUT!)
04.12.2019 AT – Wien, Arena *** (SOLD OUT!)
05.12.2019 DE – München, Tonhalle ***
06.12.2019 DE – Münster, Skaters Palace *** (SOLD OUT!)
07.12.2019 DE – Wiesbaden, Schlachthof * (SOLD OUT!)
* mit Raised Fist und Marathonmann, ohne All Else Failed
** mit Thursday, Raised Fist, Kmpfsprt und Norber Buchmacher
*** mit Raised Fist und All Else Failed, ohne Marathonmann
Fotos: Offizielles Pressebild / Quinten Quist
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